18.05.2010

Reformturbos fuhren das Bildungssystem an die Wand

nichts geht mehr im schweizer bildungsbereich. hastig eingeführte reformen, hinter denen oft nicht einmal die praktiker standen, werden an den urnen gestoppt (harmos, kantonale schulreformen, schulleitungen) oder es werden von behördenseite die rahmenbedingungen von reformen plötzlich verschlechtert (integrativer unterricht, fremdsprachenunterricht). neue schulreformen haben kaum noch eine chance, mehrheiten zu finden. die bildungsentwicklung steht still.
verursacht haben das ganze schlamassel in den letzten 10 jahren die reformturbos in den erziehungsdepartementen mit freundlicher unterstützung der ebenfalls von den erziehungsdirektorien angestellten bildungswissenschafter oder hirnforscher. politisch getragen wurden sie vor allem von einer "leistungs-orientierten" fdp und der oft zu intellektuell urteilenden, reformfreudigen sp. die cvp schwamm irgendwo mit und die svp verschlief bis vor kurzem die ganze reformitis. 

am besten zusammengefasst hat das ganze schlamassel vor zwei jahren ein beitrag im blog des web-kommentators, den ich hier mit freundlicher genehmigung des autors unverändert abdrucke:     

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Stoppt die Bildungsturbos
(beitrag vom 5. mai 2008, aus dem inzwischen eingestellten blog web-kommentator)

Grossbaustelle Bildung

Nie in der gesamten Entwicklung unseres Bildungswesens hat es mehr Reformen, mehr Änderungen, mehr Neuerungen gleichzeitig gegeben, als heute. Unter der Flagge der ganzen Pisa-Hysterie wird Reform an Reform gereiht, Neuerung um Neuerung eingeführt, kein Stein bleibt auf dem anderen. Neuerungen, die noch vor Kurzem mit viel Trara eingeführt wurden, werden bereits wieder über den Haufen geworfen. Die Hektik des Gameboy-Zeitalters hat auf die Schule durchgeschlagen. Am Beispiel des Schweizer Schulsystems lässt sich aufzeigen, dass die Bildungslandschaft in den letzten Jahren zu einer wahren Grossbaustelle geworden ist..

Bauprojekte der letzten Jahre 
(regional unterschiedlich):

  • Prüfungsfreier Übertritt in die nächsthöhere Schulstufe
  • Schülerqualifikations-System
  • Lohnwirksame Lehrerqualifikation
  • Frühfranzösisch
  • Frühmusikalische Erziehung
  • neue Lehrpläne
  • Fachlehrersystem an der Grundschule
  • Tagesschulen
  • Seniorenprojekte
  • Elternmitarbeit
  • Blockzeiten
Keines der Projekte wurde bislang seriös ausgewertet und evaluiert! Die nächsten Baustellen werden bereits in Angriff genommen:
  • Sprachenportfolio
  • Immersionsunterricht
  • Frühenglisch
  • Geleitete Schulen
  • Integrative Schulform
  • Neue Schulstrukturen in den Kantonen
  • Basisstufe (anstelle des Kindergartens: Kombistufe)
  • Harmos (gleiche Bildungsstandards für alle Regionen)
Betrachtet man die Stofffülle, die heute vermittelt werden muss, so ergibt sich ein ähnliches Bild. Immer mehr Lerninhalte kommen neu dazu oder werden von oben nach unten verlagert, resp. früher unterrichtet. Vergleiche ich mit meiner Grundschulzeit, so hatte ich in den ersten fünf Jahren noch keine:
  • Geometrie
  • Mengenlehre
  • Informatik
  • Frühmusikalische Erziehung
  • Frühenglisch
  • Frühfranzösisch
  • Interkulturelle Erziehung
  • dazu kamen viele neue Lerninhalte in den bisherigen Fächern
Immer mehr kam dazu, nichts wurde abgebaut.
Einerseits fand ein immenser Ausbau des zu vermittelnden Stoffes statt. Doch wo wurde abgebaut? Wo entschlackt? Die Antwort ist einfach: Praktisch nichts! Die Folge: Immer mehr Lehrmeister beklagen sich, dass die Schüler zwar von allem ein wenig, aber nichts mehr richtig können. Quantität statt Qualität. Die Zeit, grundsolide Fundamente für das spätere Berufsleben zu erstellen, die wichtigsten Lernziele, wie zum Beispiel das Beherrschen der deutschen Sprache zu vertiefen, bleibt kaum.


Übertriebenes Leistungsdenken

Neuster Gag, diesmal aus Kreisen der Schweizer Wirtschaft:
Studiengebühren an Leistungen anpassen. Wer sehr gute Leistungen erbringt, der soll keine Studiengebühren mehr bezahlen, dumme Schüler dafür bis zu 10'000 Schweizer Franken pro Jahr. Eine erste Auswirkung der stetig gesteigerten Leistungsanforderungen an der Grundschule sind die gestiegenen Ausgaben für Sonderbetreuung, für Stütz- oder Fördermassnahmen. Die Zahl der Klein- oder Förderklässler schnellte in den letzten 10 Jahren massiv in die Höhe. Burnoutsymptome sind auch unter den Schülern vermehrt spürbar.

Was bringt uns diese Entwicklung?

In einigen Jahren wird man feststellen, dass die Bildungsturbos der heutigen Zeit im Schulbereich wesentlich mehr Schaden angerichtet haben, als sie Verbesserungen erwirkten. In diesem Sinne muss das Motte lauten: Bremst die Bildungsturbos und findet zurück zum vertieften Lehren und Lernen. Evaluiert den Status Quo einmal richtig und wertet die laufenden Schulversuche zuerst seriös aus, bevor ihr neue startet. Und lasst die Kinder wieder Kinder sein. Erwachsen werden sie noch früh genug.

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bleibt von meiner seite her nur noch anzufügen, dass die reformitis im schulbereich in den letzten zwei jahren (seit erscheinen des obigen artikels) weiter voranschritt. nebst neuen reformen werden ganze schulen  zertifiziert oder evaluiert. die entwicklungsschritte der schüler müssen mit  tausenden von kreuzchen über jahre hinweg festgehalten, respektive fichiert werden. zum beispiel mittels europäischem sprachenportfolio. und ich erwähnte es eingangs bereits, die rahmenbedingungen für schulversuche werden im nachhinein plötzlich aus kostengründen wieder verschlechtert (klassengrössen, weniger teamteaching-stunden etc).    
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lesenswert der beitrag zur bildungskrise im magazin des tagesanzeigers von letztem samstag (ist leider nun nicht mehr frei zugänglich):
"In der Falle -Wie die Schule von Reformwahn und Bildungsbürokratie erdrückt wird"

1 Kommentar:

kikri hat gesagt…

Für mich stehen Bildungsexperten auf dem Podest: sie gehören zu den 3 blödesten Gruppen.
So schrieb die NZZ am 14.03.10:
Auf die Volksschule bezogen, wären somit jährlich rund 5000 Lehrkräfte zu ersetzen. Pro Jahr treten allerdings nur 2600 Personen
Inzwischen werden primarlehrer zu Sekundarlehrern weitergebildet.
Wann hat es zu wenig Primarlehrer?

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